Samstag, 24. Dezember 2011
Christus: Der wahre und exemplarische Mensch
Wenn am heutigen Abend der Geburt Christi gedacht und gefeiert wird, dann stellt sich doch die Frage: Wer wurde da eigentlich geboren?

Lassen wir mal die rein kirchliche Bezeichnung 'Sohn Gottes' - so treffend sie ist - einmal kurz beiseite und beleuchten Christus, wie er zugleich auch als 'wahrer Mensch' bezeichnet wird.

Was bedeutet das?

Hier eröffnet sich eine Perspektive, die sich allein auf die Entwicklungsgeschichte des Menschen bezieht und sich so auch für zunächst nicht-christliche Menschen guten Willens ein ganz eigener Zugang auftut.

Der damalige Theologe Joseph Ratzinger und heutige Papst Benedikt XVI. widmet sich in seinem Buch 'Einführung in das Christentum' ab Seite 220 sehr ausführlich zu diesem Punkt:

Christlicher Glaube glaubt Jesus von Nazareth als den exemplarischen Menschen - so kann man wohl am ehesten den vorhin erwähnten paulinischen Begriff des "letzten Adam" sachgemäß übertragen. Aber gerade als der exemplarische, als der maßgebende Mensch überschreitet er die Grenze des Menschseins; nur so und dadurch ist er der wahrhaft exemplarische Mensch. Denn der Mensch ist um so mehr bei sich, je mehr er beim andern ist. Er kommt nur dadurch zu sich, dass er von sich wegkommt. Er kommt nur durch den anderen und durch das Sein beim anderen zu sich selbst...

Der Mensch ist dadurch Mensch, dass er unendlich hinausreicht über sich, und er ist folglich um so mehr Mensch, je weniger er in sich verschlossen, "beschränkt" ist. Dann ist aber - sagen wir es noch einmal - der am meisten Mensch, ja der wahre Mensch, der am meisten ent-schränkt ist, der das Unendliche - den Unendlichen! - nicht nur berührt, sondern eins mit ihm ist: Jesus Christus. In ihm ist der Schritt der Menschwerdung wahrhaft an sein Ziel gekommen...

Wenn Jesus der exemplarische Mensch ist, in dem die wahre Gestalt des Menschen, die Idee Gottes mit ihm, vollends ans Licht tritt, dann kann er nicht dazu bestimmt sein, nur eine absolute Ausnahme zu sein, eine Kuriosität, in der Gott uns demonstriert, was alles möglich ist. Dann geht seine Existenz die ganze Menschheit an. Das Neue Testament macht das erkennbar, indem es ihm einen "Adam" nennt; dies Wort drückt in der Bibel die Einheit des ganzen Wesens Mensch aus, so dass man von der biblischen Idee einer "Korporativpersönlichkeit" spricht. Wenn nun Jesus "Adam" genannt wird, sagt dies, dass er bestimmt ist, das ganze Wesen "Adam" in sich zu versammeln. Das aber bedeutet: Jene Realität, die Paulus, heute weithin für uns unverständlich, "Leib Christi" nennt, ist eine innere Forderung dieser Existenz, die nicht Ausnahme bleiben darf, sondern die ganze Menschheit "an sich ziehen" muss (vgl. Johannes 12,32).

Es muss als bedeutendes Verdienst von Teilhard de Chardin gewertet werden, dass er diese Zusammenhänge vom heutigen Weltbild her neu gedacht und trotz einer nicht ganz unbedenklichen Tendenz aufs Biologistische hin sie im Ganzen doch wohl richtig begriffen und auf jeden Fall neu zugänglich gemacht hat. Hören wir ihn selbst! Die menschliche Monade "kann nur ganz sie selbst werden, wenn sie aufhört, allein zu sein". Im Hintergrund ist dabei der Gedanke mitzuhören, dass es im Kosmos neben den beiden Ordnungen des unendlich Kleinen und des unendlich Großen eine dritte Ordnung gibt, die des unendlich Komplexen. Sie ist das eigentliche Ziel des aufsteigenden Werdeprozesses; sie erreicht einen ersten Höhepunkt in der Entstehung des Lebendigen, um dann immer weiter voranzuschreiten zu jenen hochkomplexen Gebilden, die dem Kosmos eine neue Mitte geben: "So winzig und zufällig der Platz auch ist, den die Planeten in der Geschichte der Sternkörper einnehmen, so bilden sie letzten Endes doch die Lebenspunkte des Universums. Durch sie läuft jetzt die Achse, auf sie konzentriert sich von nun an das Streben einer hauptsächlich auf die Erzeugung von großen Molekülen gerichteten Evolution". Die Betrachtung der Welt nach dem dynamischen Maßstab der Komplexität bedeutet so "eine völlige Umkehr der Werte. Eine Wendung der Perspektive".

Aber kehren wir zum Menschen zurück. Er ist das bisherige Maximum an Komplexität. Aber auch er kann als bloße Mensch-Monade noch keine Ende darstellen; sein Werden selbst fordert eine weiter gehende Komplexionsbewegung: "Stellt der Mensch nicht gleichzeitig ein in Bezug auf sich zentriertes Individuum (d. h. eine 'Person') dar und in Bezug auf irgendeine neue und höhere Synthese ein Element" ? Das will sagen: Der Mensch ist zwar einerseits schon ein Ende, das nicht mehr rückgängig gemacht, nicht mehr eingeschmolzen werden darf, und doch ist er im Nebeneinander der einzelnen Menschen noch nicht am Ziel, sondern erweist sich gleichsam als Element, das nach einer Ganzheit verlangt, die es umgreift, ohne es zu zerstören. Nehmen wir einen weiteren Text hinzu, um zu sehen, in welche Richtung solche Gedanken führen: "Im Gegensatz zu den Annahmen, die in der Physik noch immer Geltung haben, findet sich das Beständige nicht zutiefst - im Ifraelementaren -, sondern zuhöchst - im Ultrasynthetischen". So muss entdeckt werden, "dass nichts anderes den Dingen Halt und Zusammenhang gibt als ihre Verflechtung von oben her"...

Von da aus eröffnet sich der Zugang zu einem weiteren Text, um hier wenigstens durch das Zusammenlegen von ein paar Fragmenten die Gesamtsicht Teilhards anzudeuten. "Die universale Energie muss eine denkende Energie sein, soll sie nicht in der Entwicklung weniger weit sein als die Ziele, die von ihrer Wirkung beseelt werden. Und folglich... heben die kosmischen Wertattribute, mit denen sie sich in unseren modernen Augen umgibt, keineswegs die Notwendigkeit auf, dass wir ihr eine transzendentale Form der Persönlichkeit zuerkennen". Von da aus kann nun auch der Zielpunkt der ganzen Bewegung verstanden werden, wie Teilhard ihn sieht: Die kosmische Drift bewegt sich "in Richtung auf einen unglaublichen, quasi 'monomolekularen' Zustand..., wo jedes Ego... dazu bestimmt ist, seinen Höhepunkt in irgendeinem geheimnisvollen Super-Ego zu erreichen". Der Mensch ist als ein Ich zwar ein Ende, die Richtung der Seinsbewegung und seiner eigenen Existenz erweist ihn zugleich als ein Gebilde, das in ein "Über-Ich" hineingehört, welches ihn nicht auslöscht, aber umgreift; erst in solcher Vereinigung kann die Form des zukünftigen Menschen erscheinen, in der das Menschsein ganz am Ziel seiner selbst sein wird.


Nach diesen tiefen Erörterungen kommt Ratzinger auf die Person Jesu zurück, wenn er die Teilhardsche Sicht zusammenfasst:

Der Glaube sieht in Jesus den Menschen, in dem - vom biologischen Schema her gesprochen - gleichsam der nächste Evolutionssprung getan ist; den Menschen, in dem der Durchbruch aus der beschränkten Art unseres Menschseins, aus der monadischen Verschließung, geschehen ist; jenen Menschen, in dem Personalisation und Sozialisation sich nicht mehr ausschließen, sondern bestätigen; jenen Menschen, in dem höchste Einheit - "Leib Christi", sagt Paulus, ja noch schärfer: "Ihr seid ein Einziger in Christus" (Galaterbrief 3,28) - und höchste Individualität eins sind; jenen Menschen, in dem die Menschheit ihre Zukunft berührt und im höchsten Maße sie selbst wird, weil sie durch ihn Gott selbst berührt, an ihm teilnimmt und so in ihre eigentlichste Möglichkeit gelangt.

... link (0 Kommentare)   ... comment